Der Ergänzungsausweis ist ein Dokument zur Verhinderung von Diskriminierung und dient zur Unterstützung der Rechtssicherheit staatlicher Organe im Umgang mit transidenten und intergeschlechtlichen Menschen. Er verkörpert den nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts (Az. 2 BVR 1833/95) gültigen Anspruch auf Anrede im bewussten und erklärten Geschlecht, sowie auf einen selbstgewählten Vornamen in der Kommunikation mit staatlichen Organen.
Was bedeutet Transidentität und Intersexualität?
Transidente Personen sind Menschen, deren Geschlechtsidentität nicht oder nur teilweise dem Geschlecht entspricht, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde. Transidentität ist das Gegenteil von Cisidentität. Cisidente Personen sind Menschen, deren Geschlechtsidentität dem Geschlecht entspricht, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde. (Bsp.: Transfrauen und Cisfrauen sind gleichermaßen Frauen)
Intergeschlechtliche Personen sind Menschen, deren Körper von Geburt an in irgendeiner Weise von der Zweigeschlechternorm abweichen oder Anteile beider Normgeschlechter aufweisen. Sie werden nicht den Geschlechtern: männlich (m) oder weiblich (w), sondern dem dritten Geschlecht: divers (d) zugeordnet. Hierbei ist jedoch zu beachten, dass es in Deutschland bislang noch nicht möglich ist „divers“ in den Reisepass oder die Geburtsurkunde eintragen zu lassen. Dies soll jedoch bis zum Jahr 2019 vom Gesetzgeber ermöglicht werden. In einigen ausländischen Ausweisdokumenten gibt es bereits eine dritte Option. Als Abkürzungen für diverse bzw. nicht-binäre Geschlechtseinträge werden im Ausland auch (nb) oder (x) verwendet. Das erfragen der Pronomen versteht sich als Zeichen von Respekt.
Wozu einen Ergänzungsausweis?
Transidente und intergeschlechtliche Personen kommen in Kontrollsituationen häufiger in Erklärungsnöte, da die Angaben in ihren Ausweisdokumenten ggf. nicht mit ihrer erlebten Geschlechtsidentität und besonders in der Phase des (gesetzlich vorgeschriebenen, mind. 1-jährigen) Alltagstests, auch nicht mit dem äußeren Erscheinungsbild übereinstimmen. Dies liegt daran, dass erst nach einem “erfolgreichen“ Alltagstest eine Indikation zur Verabreichung von Hormonen ausgestellt wird und erst im Anschluss mit der Angleichung des Erscheinungsbildes begonnen werden darf (insofern dies überhaupt erwünscht ist). Bevor die Person neue Ausweispapiere beantragen kann, bedarf es eines zweiten Gutachtens und eines Gerichtsverfahrens. Diese Anzahl an Voraussetzungen von fremdbestimmten Entscheidungen führt dazu, dass die behördliche Transition um einige Zeit in die Länge gezogen wird. Im Klartext bedeutet dies, dass sich transidente und intergeschlechtliche Personen nicht unbedingt eindeutig ausweisen können, was unangenehme Nachfragen zur Folge haben kann, die bei den Betroffenen belastend und erniedrigend wirken können. Um dies zu vermeiden soll die Person mit dem Namen und den Pronomen aus dem Ergänzungsausweis angesprochen werden. Fragen zum körperlichen Zustand und den vergangenen oder geplanten OPs sind unzulässig sowie obszön und sind für eine Identitätsfeststellung völlig irrelevant.
Gibt es eine rechtliche Grundlage für den Ergänzungsausweis?
Wichtigste Grundlage dieses Ausweises ist die Umsetzung der Forderung des Europäischen Parlamentes vom 05.10.1989, mitgeteilt in der 11. Wahlperiode des Deutschen Bundestages unter Punkt 9:
1. ist der Überzeugung, daß die Würde des Menschen und das Persönlichkeitsrecht das Recht beinhalten müssen, ein Leben entsprechend der geschlechtlichen Identität zu führen;(...)
3. fordert den Europarat auf, eine Konvention zum Schutz der Transsexuellen zu erlassen;(...)
9. fordert die Kommission, den Rat und die Mitgliedstaaten auf, Ausweise zu erstellen, die die Transsexuellen auf Wunsch als solche ausweisen und EG-weit anerkannt sind;
10. fordert den Ministerrat und die Mitgliedstaaten auf, bei der Vereinheitlichung des Asylrechts die Verfolgung wegen Transsexualität als Asylgrund anzuerkennen;(...)
13. fordert bei der Kommission eine Stelle zu benennen, bei der Fälle von Diskriminierung gemeldet werden können; (...)
DAS EUROPÄISCHE PARLAMENT: http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/11/053/1105330.pdf
Da seither keine deutsche Bundesregierung diese Forderung aufgriff, hat sich die Deutsche Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität e.V. (dgti) entschlossen, dies zu tun. Das Bundesministerium des Innern (BMI) bestätigte am 22.12.2016 schriftlich (https://www.dgti.org/images/pdf/Schreiben-des-Bundesinnenministeriums.pdf), dass sich der Ergänzungsausweis damit ausdrücklich auf dem Boden geltenden Rechtes befindet. Die Herstellung und Vertrieb des durch mehrere Sicherheitsmerkmale gegen Fälschung geschützten Ergänzungsausweises erfolgt in Verantwortung der dgti e.V.
Für den Schutz der Persönlichkeitsrechte braucht es jedoch kein rechtlich anerkanntes Dokument. Der Ergänzungsausweis ist lediglich ein Hilfsmittel, um Dritten die eigene Situation zu erklären. Sollte sich eine Person ausschließlich mündlich als trans* oder inter* outen, reicht dies aus, um ein berechtigtes Interesse geltend zu machen und mit dem gewünschten Namen und den gewünschten Pronomen angesprochen zu werden bzw. die jeweilige Toilette benutzen zu dürfen.
Jedermann kann daher von den staatlichen Organen die Achtung dieses Bereichs verlangen. Das schließt die Pflicht ein, die individuelle Entscheidung eines Menschen über seine Geschlechtszugehörigkeit zu respektieren. (…)
BVerfG, 15.08.1996 - 2 BvR 1833/95
Was tun beim Verdachtsmoment Ausweismissbrauch?
Händigt jemand lediglich den Ergänzungsausweis aus, so fragen Sie zunächst nach dem RP oder BPA. Dies geht auch im umgekehrten Fall und verschafft nonverbal Klarheit in zunächst unklaren Situationen. Fragen wie: „Sind sie trans*/transident?“ sollten nur mit Bedacht gestellt werden (und auch nur falls kein Ergänzungsausweis vorgelegt wurde!) um der Person nicht in aller Öffentlichkeit ein „Zwangsouting“ aufzubürden. Dies wäre eine Verletzung der Persönlichkeitsrechte, welche laut Transsexuellen Gesetz (TSG) durch ein Offenbarungsverbot besonders geschützt sind. Begriffe wie “Transe, Shemale, Ladyboy, Dyke oder Schwuchtel“ haben im polizeilichen Sprachgebrauch nichts verloren und können bei Verwendung als beleidigend aufgenommen und gegen den/die Beamt_in zur Anzeige gebracht werden. Alternativ hilft die standardisierte Befragung zum Abgleich zu den vorgelegten personenbezogenen Daten (Achtung: Dead-Naming vermeiden! D.h. den/die alten Vornamen nicht erfragen oder verwenden). Auch der Abgleich der Unterschrift stellt nach wie vor eine Möglichkeit dar. Falls jedoch bereits ein neues Dokument mit einer neuen Unterschrift vorhanden ist, ist diese ggf. noch nicht in Fleisch und Blut übergegangen und kann aus diesem Grund unterschiedlich abweichen.
Wer durchsucht trans*- und inter*-Personen?
Justiziariat der Polizei Berlin (19.07.2010): „Strafprozessual ist die körperliche Untersuchung gem. § 81d Abs. 1 Satz 1 StPO grundsätzlich von einer Person gleichen Geschlechts oder von einer Ärztin oder von einem Arzt durchzuführen, wenn die Maßnahme das Schamgefühl verletzen kann. Nach Abs. 1 Satz 2 dieser Regelung soll bei berechtigtem Interesse der betroffenen Person diese Untersuchung einer Person oder einem Arzt des Geschlechtes übertragen werden, das die betroffene Person wünscht. Sinn und Zweck dieser Regelung ist es, der Verpflichtung jedes Trägers hoheitlicher Gewalt, die Würde des Menschen zu schützen (Art. 1 Abs. 1 GG), zu entsprechen. Nach herrschender Meinung gilt dieser Grundsatz über den Wortlaut der Regelung hinaus auch für Durchsuchungen nach §§ 102 und 103 StPO. Dem ist zuzustimmen, da der Schutz der Menschenwürde das höchste Gebot hoheitlicher Gewalt ist. Von dieser Zweckbestimmung ausgehend muss die Regelung des § 81d Abs. 1 Satz 2 StPO nicht nur für den Bereich der Strafverfolgung gelten, sondern darüber hinaus auch für den der Gefahrenabwehr. Sie ist daher ebenso entsprechend auf § 34 Abs. 4 ASOG anzuwenden, sofern nicht die sofortige Durchsuchung zum Schutz gegen eine Gefahr für Leib oder Leben erforderlich ist. Analog zu §§36 HSOG“
Transidente und intergeschlechtliche Personen können also zum geringfügigen Schutz ihrer Würde entscheiden, ob sie die Durchsuchungsmaßnahme durch einen männlichen oder eine weibliche Polizeibedienstete_n durchführen lassen müssen. Die zu durchsuchende Person ist im Vorhinein darüber zu belehren, über die Wahl selbst entscheiden zu dürfen. Die Entscheidung ist zum Schutz der Durchsuchungskräfte im Durchsuchungsprotokoll unter “Sonstiges“ zu vermerken.
Eine sog. Teildurchsuchung (z.B. oben ein Kollege/ unten eine Kollegin) ist rechtswidrig, da der teleologische Hintergrund der Formvorschriften nicht darin besteht gleiche Körperteile zu besitzen, sondern der Geschlechtsidentität (welche unabhängig von Geschlechtsorganen besteht) entsprechend, im heteronormativen Sinn möglichst wenig in die Intimsphäre einzugreifen um das Schamgefühl zu schützen und ein Mindestmaß an Verhältnismäßigkeit, in dieser rechtsgüterverletzenden Situation, aufrecht zu erhalten.
Eine Ankündigung und kurze Erläuterung des Ablaufs der anstehenden Maßnahme kann im Vorhinein zum Aufbau einer gewissen Vertrauensbasis führen und Widerstandshandlungen vorbeugen. Eine kontinuierliche und gründliche Durchsuchung bei der mit der zu durchsuchenden Person kommuniziert wird, ist ein Zeichen von Professionalität. Das Durchwechseln der beteiligten Polizeikräfte, Gaffen, Fragen zur Transition oder Kommentare zum körperlichen Zustand während, vor oder nach der Durchsuchungsmaßnahme sind zu unterlassen, da ein solches Verhalten traumatisierende Folgen für das polizeiliche Gegenüber mit sich bringen kann.
Weitere Informationen zum Ergänzungsausweis gibt es unter: https://dgti.org/ergaenzungsausweis.html
Trans*/ Inter*-Fachfragen mit Polizeibezug oder Fortbildungsanfragen können an Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein! gestellt werden.
Mit akuten Sachverhalten, die nicht anhand dieses Handouts bewältigt werden können, sollten Sie sich direkt z.B. an die behördeninternen Ansprechpersonen für LSBTI oder AgL wenden.